Aber hallo, noch immer dabei!? Es ist schon unglaublich, was man unter dem Deckmantel "Erwachsenenbildung" alles bringen kann. Und dabei halte ich mich ja noch zurück, bislang jedenfalls. Nun
aber sticht mich doch der Hafer.
Der "lnside/Outside-Stroke" der letzten Folge war ja vorrangig ein technisches Problem. Vorrangig sage ich deshalb, weil sich Probleme selten auf nur einer Ebene abspielen. (Bei allem technischen
Verständnis bedarf es schon einer gehörigen Portion Willenskraft, alteingesessene Bewegungsmuster wie den "Outside-Stroke“ derart massiv zu stören.)
Da Musik eher eine abstrakte Leistung darstellt, erlaube ich mir für einen Augenblick, die reale, technische Ebene zu verlassen. Man muß in keiner Sekte mitmischen oder esoterische Buchläden
heimsuchen, um einzusehen, dass unsere Leistungsfähigkeit sehr "stimmungsabhängig" ist.
"Heut läuft's gut" oder "mehr war heute nicht drin" sind nur zwei von vielen Stellungnahmen, die uns zeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit wir uns unseren Stimmungen unterwerfen. In dieser
Hinsicht sind wir ungleich verwundbarer als z. B. ein Handwerker. Wir funktionieren in einem sehr komplizierten Wechselfeld von mentaler und mechanischer Leistungsbereitschaft.
Mit mechanisch meine ich all die sorgfältig antrainierten Handhaltungen, Akkordformen, Licks und Tricks. Erst die mentale Komponente aber schafft es, mit Hilfe von Inspiration und Kreativität,
die gelernten Muster zu einem musikalisch sinnvollen Paket zu verschnüren.
Ich beobachte jedoch häufiger, dass die spieltechnischen Ambitionen in einem sehr ungesunden Verhältnis zur mentalen Leistungsbereitschaft stehen.
Aber, worum geht es ? Ich will mühevoll einstudierte starre Bewegungsmuster beweglicher machen. Ich will mehr Kilometer pro Liter, mehr Musik pro Lick. Ich will frische Farben für alte Linien. In
diesem Zusammenhang Iautet mein Vorschlag: Ändere den Rahmen und nicht das Bild!
Ein neuer Rahmen ist beispielsweise der veränderte "Rhythmische Puls". Quintessenz ist, dass eine feststehende Notenfolge im 8tel-Puls gespielt (Abb.1) deutlich anders klingt als in
8tel-Triolen(Abb 3a). Oder anders ausgedrückt, dass sich eine in 8teln komponierte Melodie völlig verfremdet, wenn man sie in 8tel-Triolen auflöst.
Nichts Besonderes, meint man vielleicht. Irrtum, meine ich! Und das aus zweierlei Gründen:
Eine solch geartete Verfremdung ist erstens ein musikalisch sehr komplexer, wirkungsvoller Vorgang und zweitens ein wahres Füllhorn unterschiedlichster Übungen auf technischer und mentaler
Ebene.
Ordnen wir noch einmal unser Werkzeug.
Abb. I ist unser "Bild", nennen wir es "Lick-X". Eine kleine Auswahl möglicher neuer "Rahmen" könnte lauten:
- Verlängern bzw. Auffüllen der Linie (Abb. 2)
- Verändern des Rhythmischen Pulses (Abb. 3a/3b)
- Versetzen bzw. Synkopieren der Linie (Abb. 4)
Diese rhythmische Verschiebung bezeichne ich auch gerne als "Phrase-Syncopation". Lautet eine gängige Definition für Synkope
"Betonung eines unbetonten Taktwertes", so kann ich mit Fug und Recht sagen, dass hier die gesamte Phrase synkopiert, quasi ihre Kehrseite zu Gehör gebracht wird.
Es heißt zwar, Papier sei geduldig, aber das Schreiben, Definieren und Notieren solch ausgefallener Gedanken hinterlässt bei mir immer eine gewisse Unzufriedenheit. Wirklich überzeugen kann nur
der Klang und den bleibt das Papier leider schuldig. So muß ich es jedem selbst überlassen, diese "unbekannte Welt" zu entdecken! All diese Beispiele sind starker Tobak. In technischer Hinsicht
bleibt ja eigentlich alles beim alten.
Aber unser Hirn stellt sich quer, und nicht nur unser eigenes. Auch ein neutraler Zuhörer wird so manche "versetzte" Linie als neu empfinden, obwohl sich praktisch nichts verändert hat. Und das
ist auch der Reiz an der Sache.
Tatsächlich machen wir uns eine akustische Täuschung zunutze. Töne, die auf Downbeats, also auf Zählschlägen, erklingen, werden als musikalisch bedeutsamer empfunden. Was zwischen den Downbeats
erklingt, scheint unwichtiger.
Wir manipulieren also die Bedeutung der einzelnen Töne, sowie deren Verhältnis zueinander.
Der neue versetzte rhythmische Puls rückt auf diese Weise Töne ins Scheinwerferlicht, die eben noch "unerhört" waren und degradiert die vormals wichtigen Noten zu Statisten. Die extremste Form
dieser Idee stellt die zunehmende Verschiebung in Abb. 4 dar. Hier ist die Wirkung deshalb so überraschend, weil der Arbeitsaufwand im Verhältnis so gering ist.
Haben wir vorhin noch die rhythmische Auflösung komplett erneuert, so können wir diesmal alles belassen wie es ist. Wir müssen es nur schaffen, die Linie im Gesamten "zu früh bzw. zu spät" zu
spielen.
Leichter gesagt als getan! Aber urteile ein jeder selbst. Spätestens jetzt, so hoffe ich, wird klar, dass derartige Gedanken nur auf einer soliden rechten Hand-Technik gedeihen können. Wer den
Tücken des "Inside/Outside-Stroke" ausweicht, wird schnell an die Grenzen seiner Möglichkeiten stoßen.
Ein Nachwort:
"Verstehen contra Lernen" ist kein Sammelsurium von Licks, Tricks oder Übungen!
Es ist der Versuch, mentale Sperren niederzureißen und Schlüsselfehler abzustellen. Und daraus, so hoffe ich, entsteht nicht nur eine solide flexible Technik, sondern auch neuer kreativer
Mut.
© 2002 Abi von Reininghaus