Verstehen contra Lernen 1

Provokation - warum eigentlich nicht? Alles strotzt nur so vor höflichen
Empfehlungen, unverbindlichen Spiel-Tipps. Nein, entgegen aller
Gepflogenheiten, manchmal reicht es eben doch nicht, nur zu sagen,
was besser wäre, man muß auch mal laut "Mist" sagen dürfen. Mist ist z. B. der Wunsch, ständig, unaufgefordert und unreflektiert Neues lernen zu wollen.

"Lerntechnik und Übungsmethoden" (Kapitel 15 und 16, aus dem Jahr 92) waren ein Anfang, und die Resonanz darauf war mehr als ermutigend.
Irgendwann, in einer der früheren Folgen, hatte ich mal vorgerechnet, wie endlos vielfältig das Thema Melodik ist und dazu noch einmal ein paar Rechenbeispiele:

Angenommen, wir hantierten mit einer A-moll Pentatonik (A-C-D-E-G), und wir sollten mit diesen insgesamt 5 Tönen verschiedene Melodien formen, ohne eine Note auszulassen oder eine Note doppelt zu spielen - wieviele verschiedene Melodien aus diesen maximal 5 Tönen erhielten wir? Stolze 120!

Mal angenommen, ich würde die Oktave, also das A, noch mitspielen, somit aus diesen 6 Tönen unterschiedliche Melodien nach gleichem Muster formen müssen - wieviele Variationen entstünden nun? Erstaunliche 720!
Gut, machen wir weiter. Eine Durtonleiter inklusive der Oktave besteht aus 8 Tönen. Nun ergäbe die Zahl der möglichen Vertauschungen nach gewohntem Muster unglaubliche 40.320!
Würde ich mir vornehmen, nur eine einzige Note doppelt zu spielen und somit insgesamt 9 Noten durcheinander zu wirbeln, es ergäben sich 362.880 Variationen! Und bitte - wir kümmern uns noch nicht einmal um rhythmische Variationen, von sonstwelchen Phrasierungen ganz zu schweigen.

Aber Vorsicht - natürlich machen nicht alle dieser Melodien Sinn, wir sprechen hier schließlich nicht über Komposition. Aber betrachten wir mal die 40.320 Möglichkeiten aus einer ein-oktavigen Durtonleiter und nehmen wir vorsichtig an, ein Prozent dieser Melodienflut wäre einer näheren Betrachtung würdig, dann bin ich sicher, dass keiner von uns sich jemals die Mühe gemacht hat, 403 verschiedene Grundmelodien aus einer einzigen Durtonleiter wenigstens probehalber durchzuspielen.
Nein, viel wichtiger erscheint es ja, sich die Major-Patterns "draufzuschaffen", was immer das heißen mag. Und sobald man die wenigstens halbwegs so spielen kann, dass man sich dabei nicht ständig mit dem Plektrum ins Auge sticht, ist man "reif" für Größeres, für Modes.
Nach den Modes kommen dann Verminderte Tonleitern, Ganzton, Harmonisch und Melodisch Moll und die ganzen daraus resultierenden "Artificial Modes" wie Alteriert und Lydisch b7, des weiteren pentatonische Verschiebungen, Dreiklang-Super-Impositionen und, und, und...

Das kann's doch nicht sein, oder? Da wird man doch schon beim Lesen verrückt.

Also gut, wie wäre es stattdessen mit einer kleinen Besinnungspause? Eine kurze Unterbrechung des zwanghaften Wunsches nach "Schneller-Höher-Weiter".

Aber natürlich stelle ich nicht das Lernen an sich in Frage. Ich erlaube mir lediglich und drängend, an der Art und Weise des Lernens zu rütteln.
Wenn ich mir jemanden ausmale, der, sobald er ein paar Akkorde auf der Gitarre hinbringt, mit dem Klavier loslegt, dann weiter zum Cello, weiter zum Saxophon, ein wenig Drums und Singen kann ja auch nicht schaden..., wenn ich dem Treiben also eine Weile zusehe, dann drängt sich doch der verdacht auf, dass der Gute nicht sonderlich ernst bei der Sache ist oder wahrscheinlich treffender, einen Schlag hat! Und damit stehe ich garantiert nicht alleine- mit dem Verdacht, meine ich.
Ja aber...trotzdem scheint gerade dieses Verhalten auf unserem Instrument allgemein akzeptiert zu sein, schlimmer noch, empfohlen zu werden...

Kein Mensch redet hier von weltfremder Zen-Disziplin, aber gäbe man sich selbst nur etwas mehr Zeit, man könnte nicht nur das musikalische Potential einer neuen Aufgabe besser erfassen, man könnte auch die damit verbundenen technischen Probleme leichter verstehen und in Erfolg ummünzen.

Und damit kommen wir endlich zu einem netten Motto:
“Verständnis für technische Probleme”.

Hat der liebe Gott meine linke Hand wirklich dazu erschaffen, dass ich verschieden starke Drähte zwischen meinen Fingern und einem Brett einquetsche? Noch dazu in so einer saublöden Haltung. Läge das Brett auf dem Boden, hätte ich doch viel mehr Kraft. Anatomisch gesehen spricht verdammt wenig für unsere Leidenschaft. Im Gegenteil: chronische Rückenschäden, Sehnenscheidenentzündungen, zerfranste Fingerkuppen...

Ich war ja mal so frisch und brachte in Kapitel 15, im Jahr '92 einen fiktiven Übungsplan an den Start. Wenn ich mir jetzt den Spaß mache und vorsichtig überschlage, wieviele Noten/Töne ein fortschrittlicher Gitarrist innerhalb dieser 3 Stunden und 35 Minuten absondert, dann komme ich auf ein Minimum von 12.000. Okay, gegen eine durchtrainierte Chefsekretärin sehen wir so agil aus wie Suppenschild- kröten, aber wer will gleich Boris stellen, nur weil er gerne Ping-Pong spielt ?
Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie oft am Tag, in der Woche, im Monat, im Jahr... ich einige der kleinsten elementarsten Grundbewegungen immer und immer wieder abspule. Dann komm ich ins Nachdenken –

Bin ich nämlich ernsthaft interessiert auf meinem Instrument besser zu werden, erkenne ich, wie sehr die kleinste Fehlhaltung, die geringste Nachlässigkeit mein Spiel behindert und erschwert. Im Sport hat mich oft fasziniert, wieviel Aufmerksamkeit auf minimalste Bewegungsabläufe gerichtet wird. Und ich bin überzeugt, dass auch wir von dieser Aufmerksamkeit profitieren können! Ein grundsätzlich richtiger Gedankengang steht hinter dem Begriff "Synchronisation". Trotzdem wird hierbei zu hoch gegriffen. Denn bevor ich meine beiden Hände synchronisieren kann, muss sichergestellt sein, dass die einzelne Hand und jeder einzelne Finger der komplexen Aufgabe gewachsen ist. Was ich andernfalls "synchronisiere", sind hartnäckige Grundfehler.
Sehe ich mir meine eigene Entwicklung auf dem Instrument an, dann muss ich zugeben, dass ich in den vergangenen 20 Jahren wahrscheinlich mehr Zeit darauf verwenden musste, alt eingesessene Fehler auszumerzen, als neue Dinge zu lernen. Der Gedanke drängt sich auf: Wo wäre ich heute, wenn ich von Anfang an alles Neue richtig gelernt und sorgfältig eingeübt hätte?

Ich bin beileibe nicht unzufrieden mit mir, aber dieses Gedankenspiel macht mich schon manchmal unruhig! In unserem Metier, vorausgesetzt, man hat ernste Absichten, wird jede Form von Ungeduld und den daraus resultierenden "Abkürzungen" eines Tages eine verdammt ärgerliche Fehlentscheidung!

Welche Gitarre hat man gewählt, welche Saiten, welches Pick? Wie hoch hänge ich mir das gute Stück um den Hals, wie halte ich das Pick, wo plaziere ich den Daumen der linken Hand? Spiele ich in der linken Hand ohne kleinen Finger, verwende ich in der rechten Hand Wechselschlag?
Unbestreitbar, dass diese Entscheidungen unsere Gesamtentwicklung massiv vorprogrammiert haben. Ebenso unbestreitbar ist, dass jede Änderung dieser Gewohnheiten unser mühsam erkämpftes "Können" schnell ins Wanken oder gar zu Fall bringen kann.


Etwas plakativ dargestellt: wir haben beim Lernen zwei Möglichkeiten.


Abb. 1
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Abb. 2
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entweder eine Zick-Zack-Kurve, Höhen und Tiefen, Aufstieg und Rückfall, "Blut, Schweiß und Tränen" - da wird gelitten, da wird gekämpft. Mordsfotogen, Rock 'n' Roll wie es die Menge liebt! Strahlende Sieger und... na, ja, tugendhafte Verlierer. (Tausche Hamer Sunburst gegen Hohner Bergecho, Chiffre...)


Oder eine unspektakuläre ruhig ansteigende Erfolgslinie, eher langweilig, aber sehr effizient. Diese Form des Erfolges ist klar die bessere, gibt aber kaum Gesprächs- stoff, ist introvertiert und damit etwas unzeitgemäß. Der alte Zwist von "Schein und Sein". Aber wurscht.


Howard Roberts hat jedenfalls mal gesagt "Gitarrespielen ist leicht, spiel einfach keine falsche Note". Lange empfand ich das als Ironie, mittlerweile ist mir aber klar, wie recht er hat. Falsche Noten spielt man aber nicht, weil man sie falsch ausgewählt hat, sondern weil unsere Hände eingespeicherte Bewegungsmuster ausführen, auf die wir mental kaum mehr Einfluß haben. Unser Kopf ist wehrlos - Reflexe haben sich verselbständigt.


Hier hilft es wenig, das Gewünschte mit Eselsgeduld immer wieder von Neuem richtig zu spielen. Viel entscheidender wäre, das hartnäckig wiederkehrende Fehlermuster aufzudecken, zu stören und schließlich zu ersetzen. Hand drauf - die Fehler, die wir im allgemeinen machen, passieren, OBWOHL wir genau wissen, wie es richtig zu spielen wäre!

Konsequenz: Fehler sind kein Zufall, sondern Reflexe. Ihr Ursprung liegt weit zurück. Was nützt es, die Synchronisation zwischen linker und rechter Hand zu üben, wenn der kleine Finger der linken Hand das eigentliche Problem ist?
Was nützt es, eine Rhythmusgitarrenfigur immer und immer wieder mit Metronom zu üben, wenn sich das Plektrum ständig nach innen dreht und dann aus den Fingern rutscht?


Jedes Problem hat eine tieferliegende Ursachenebene. Der gerade entstandene Fehler ist nur das Symptom. So formuliert, renne ich garantiert offene Türen ein: Man therapiert nicht das Symptom, sondern die Ursache.

© 2002 Abi von Reininghaus