Kürzlich fiel mir etwas auf, das einen festen Bestandteil meines gitarristischen Alltags ausmacht - etwas, ohne das ich nur eingeschränkt funktionieren würde und das es trotz alledem bislang
nicht geschafft hat, gebührend wahrgenommen zu werden.
Wäre ich beim Durchblättern alter Folgen nicht über "Technischer Minimalismus" (Kapitel 26, 1993) gestolpert, ich hätte noch immer keine Ahnung, welch wundersame Mechanismen in mir ablaufen. Doch
der Reihe nach.
Von uns Musikern, uns Künstlern wird erwartet, dass wir ungeachtet unseres Leistungswillens, unseres Gesundheitszustandes und unseres Genussmittelkonsums, zu jeder Tages- und Nachtzeit präzise,
zuverlässig und gleichförmig funktionieren.
Nun, ganz abgesehen davon, dass solche Ansprüche an einen Künstler der Quadratur des Kreises gleichkommen, müssen wir uns solchen Forderungen dennoch von Zeit zu Zeit stellen.
Wie es unsere Gitarristennatur aber so will, haben wir im entscheidenden Moment die falschen Ersatzsaiten, kein eigenes Pick und einen frisch abgerauchten Amp dabei. Und natürlich stehen wir
nicht zum ersten Mal vor solch einer Problematik. Flugs eine 11er D-Saite aufgespannt, das moosige Filzpick vom Bassisten erbettelt und die Gitarre in den Gesangsmischer "eingespeist" - okay, ja,
immerhin haben wir eine Gitarre dabei...
Also die Bedingungen sind wieder einmal alles andere als optimal. Wenn ich diese Art von technischen Schwierigkeiten einige Etagen höher ansiedele, dann verblüfft mich, dass gerade Top-Profis,
die erfahrungsgemäß mit einem hochspezialisierten und direkt auf sie zugeschnitten Equipment arbeiten, zwar gewaltigen Ärger empfinden bei Unwägbarkeiten wie Luftfracht verlorengegangen ,
Backline- LKW ausgebrannt etc., nicht jedoch die ganze Show absagen müssen, nur weil sie mit ungleichem Ersatz nicht spielen können.
Ich finde diese Flexibilität deshalb so erstaunlich, weil allgemein der Glaube herrscht, dass es in den Top Etagen ohne dieses individuell angepaßte Spezial - Equipment gar nicht mehr geht.
Natürlich bereitet so eine improvisierte Situation gewaltige Verwirrung und auch zusätzliche Pannen, der Zuhörer bemerkt davon aber oftmals gar nichts und die Musiker, Techniker, Manager bügeln
es irgendwie aus. Ich habe Saga mit kurzfristig ausgeliehenen Strats und Les Pauls einen guten Gig spielen sehen. Ich durfte Joe Pass mit einer Strat bestaunen, ich habe Allan Holdsworth und
seine Synthaxe anstatt auf einem Oberheim Matrix-12 Synth, auf obskuren Ersatzteilen eine gute Show abliefern sehen.
"Ja," höre ich da manche sagen, "die haben einfach solche spieltechnischen Reserven, dass es eben immer noch reicht". Sicher nicht verkehrt, aber ich glaube, es gibt da noch eine weitere
Perspektive.
Mir scheint, als müsste man notgedrungen über die Jahre die Fähigkeit entwickeln, sich auf unterschiedlichste Situationen blitzschnell einzustellen.
Dickere Saiten? - Okay, härterer Anschlag mit der rechten Hand, - Vorsicht beim Saitenziehen, -Achtung beim Vibrato... Andere Mikros, falscher Verstärker, durchgeblasene Memories im Effekt-Rack,
die Liste ist endlos...
Captain Locrian (für die Quereinsteiger, das bin ich) zwang sich schon sehr früh, mit den unterschiedlichsten Instrumenten zurechtzukommen. Mit 14 Jahren, also in der Zeit, als ich bereits
herausgefunden hatte, dass man auf der Gitarre den dünnen Teil würgt und den dicken verdrischt, fing ich an, wann immer ich nach München kam, das Musikhaus Knobloch heimzusuchen. Meine
persönliches Instrument war damals eine Hopf Wandergitarre mit Darmsaiten (uargh...) mit einem ungefähren Marktwert von 160 deutschen Marken inklusive buntkariertem Etui. Das gab mir irgendwie
das Recht, in jenem Haus, sobald ich mich unbeaufsichtigt wähnte, eine Gitarre von Minimum DM 2.000,- vom Haken zu reißen.
Und dann war da auch so eine faszinierende Vitrine mit Innen- beleuchtung, in der ganz besonders leckere Sachen standen. An einem ganz wunderbaren Tag gelang es mir endlich, dort eine Ramirez zu
befreien. Was beim Autoquartett die PS, waren für mich die uvPE. Ich fühlte mich wie ein König - 6.300,- DM flüsterte das kleine Preisschild am roten Wollfaden.
Ich fand trotzdem, dass die Saitenlage lausig war. Für weitere Untersuchungen reichte die Zeit leider nicht, weil einer der Aufseher mich schon erwischt hatte... Als ich eines Tages bereits an
der Tür gestoppt wurde, wusste ich, dass es Zeit war weiterzuziehen.
Etwa fünf Gehminuten entfernt befand sich die Herzog-Wilhelm- Straße, in der sich die Zitrone Musik niedergelassen hatte. Mensch, die hatten Sachen, Fenter oder so ähnlich, spielt nicht Ricky
King so ein Ding?!?
Und dann so ganz Große mit 12 Saiten, so wie Rodscha Whittaker eine hat. Ich war ganz weg. Und Preise, so richtig zum Staunen. Aber mit Staunen allein wollte ich es nicht bewenden lassen, also
ran an die Buletten.
Les Paul Custom, backe, is' die schwer, aber 'ne super Saitenlage. Dann 'ne echte Fender Telecaster mit 20er Werkssaiten, da braucht man kein Pick, sondern 'n Pickel und zwar in der Hand! Und
diese Ovation, wie die einem immer nach vorne wegglitschen, aber tierisch laut und außerdem sollen die nie kaputtgehen, auch wenn mal eine nach vorne wegglitscht.
Kurz, man kann sagen, dass ich einen wesentlichen Teil meiner gitarristischen Frühentwicklung auf werksbesaiteten, uneinge- spielten Gitarren, im ständigen Kampf mit diesen immer größer
werdenden, im Weg herumhängenden Preisschildern, bestritten habe.
Ich muß zu meiner Ehrenrettung sagen, dass ich im zarten Alter von 18 Jahren dort dann doch endlich meine erste Stromgitarre nebst Amplifikation erwarb. Ach, ich gerate ins Plaudern...
Da ich auch heute noch die Angewohnheit habe, jedes Instrument, das mich interessiert, in die Hand zu nehmen befinden sich meine Hände in einem unentwegten Anpassungsprozess, der mich allerdings,
und das ist die gute Seite daran, auch mit fremden Instrumenten, Picks, Saiten etc. einigermaßen zurechtkommen lässt. Nur bei Verstärkern habe ich ein festes Erwartungsmuster und da komme ich so
leicht nicht raus. Wie aber, die Frage stellt sich irgendwann zwangsläufig, schaffe ich es, meine Hände an ständig verändernde Situationen anzupassen, ohne die sorgfältig ein- studierten
Bewegungsmuster der Pick- und der Greifhand zu gefährden?
Wenn ich mir beim Ausprobieren einer Gitarre oder beim erstenmal Spielen nach einer längeren Pause quasi selbst über die Schulter schaue, dann beobachte ich immer das gleiche Muster. Ich bewege
erst einmal nur die linke Hand kreuz und quer über das Griffbrett, um mir die Saitenlage und Saitenstärke in allen Lagen einzuprägen. Dann schlage ich, mal mit dem Pick, mal mit den Fingern, alle
Saiten ein paar Mal an, während ich sie mit der linken Hand gedämpft halte. Hierbei wird mir der Widerstand (die Biege- steifheit) und auch Rauhheit der Saite klar, was einen erheblichen Einfluss
auf meine Pickhaltung und damit auf den Ton hat.
Wohlgemerkt, noch habe ich auf der Gitarre nicht gespielt! Erst wenn mir die beschriebenen "Untersuchungen" eine klare Rück- meldung über das Instrument geben, dann beginne ich mit dem ersten
Ton. Und auch dann fange ich nicht einfach an drauflos- zuprügeln, sondern verwende eine bestimmte Abfolge stereotyper Phrasen und Licks, die ich in- und auswendig kenne und schon lange
beherrsche .
Ich will unbedingt anmerken, dass dieses Prozedere nicht bewußt gesteuert wird, sondern sich bei mir im Laufe der Zeit völlig unbemerkt eingeschlichen hat.
Meistens beginne ich damit, an verschiedenen Stellen auf dem Griffbrett und auf verschiedenen Saiten abwechselnd Ganz- und Halbtöne zu ziehen, dann folgen einige 08/15 Blues Phrasen und erst
allmählich kommen Tonfolgen, die ich eher mir selbst zuschreibe.
Mit diesen "persönlichen Standardlicks" kalibriere ich mich dann endgültig. Dieses persönliche "Kalibrieren" hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vorgang, mit dem z.B. eine Waage im Leerzustand
auf Null gestellt wird, ein Stimmgerät auf die 440 Hz eingemessen oder ein Multieffekt auf den Werkszustand initialisiert wird. Alle diese Vorgänge schaffen den gewünschten Nullzustand, bestimmen
die "Mitte" des jeweiligen Systems.
Natürlich klingt meine Beschreibung wesentlich technischer als ich sie tatsächlich empfinde. Wie aber sollte man es anders beschreiben...?
Wenn wir uns alle einmal sorgfältig über die Schulter blicken, bin ich überzeugt, dass jeder mindestens eine "Vorzugsphrase", mindestens einen "Standard-Lick" hat, mit dem er sich einer fremden
Gitarre oder seiner eigenen nach einer längeren Pause respektvoll nähert.
Ich würde mir wünschen, dass diese Phase des Herantastens verlängert, besser noch, vertieft wird, denn hier liegt eine Quelle des persönlichen Tons, des persönlichen Ausdrucks. Ich fühle mich
jeden Tag ein wenig anders, mal sind die Hände müde, mal habe ich super Spiellaune, dann wieder Kopfweh und überhaupt keine Lust. Wenn ich also in allen denkbaren Situationen, inklusive der
beschriebenen Katastrophen, noch zuverlässig funktionieren will, dann muss ich meine persönliche "Mitte" täglich auf's Neue bestimmen. Ich muss mich immer wieder "einmessen", "kalibrieren", "auf
Null stellen". Auch das ist Musik - selbst wenn darüber nie gesprochen wird.
Hier noch der favorisierte 08/15 Lieblingslick aus meinem "Messlabor".